2023
INDIVIDUALITÄT / VERLETZLICHKEIT
Ich möchte die Individualität, die sich im allgemein Menschlichen findet,
zeigen: Im Ausdruck und Blick, in der Pose und der Handhaltung.
Die Porträtierten zeigen uns keine erklärenden Accesoires - wie die
Referenzen im 15. und 16. Jhdt. Sie tragen auch keine bedeutsame Kleidung.
Sie zeigen uns nichts weiter, als sich selbst, nichts als ihr Mensch-Sein.
In dieser Exponiertheit, ja, fast Nackheit scheinen die Blicke uns zu fragen:
Was willst Du? wieso schaust Du mich so an? Als Betrachtende stehen wir
Verletzlichen gegenüber, die mit ihren Händen eher abwehren möchten, uns
aber doch mit offenem Blick ansehen und damit mit uns in eine Beziehung
treten. „Man kann diese Beziehung (...) zwischen dem Blick des Betrachters
und dem Blick des Porträtierten eine Form des visuellen Vertrags nennen,
in dem Menschen die Tatsache anerkennen, daß sie selbst sehen können und
zugleich selbst sichtbar sind.“, schreibt Tobias Keiling in einem Aufsatz
mit dem Titel „Verletzlichkeit“.* Aus diesem Zusammenhang heraus erkennen
wir Betrachtende uns vielleicht in der gleichen Verletzlichkeit wieder,
die die Porträtierten ausstrahlen. Einer Verletztlichkeit, die von Judith
Butler als eine Grundeigenschaft des Menschlichen angesehen wird.**
Menschlichkeit wird erst ermöglicht, wenn Menschen sich selbst als
verletzliche Wesen denken.
* Tobias Keiling, Verletzlichkeit, Freiburger Universitätsblätter 208 (2015), S. 110
** vgl. Judith Butler, Bodily Vulnerability, Coalitions, and Street Politics. In: Critical Studies 37, 2014